Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe / Sammelaktion am 6. April im Rasteder Schlosspark
OLDENBURG/RASTEDE. „Sammeln statt Sabbeln": Dass die fürs erste April-Wochenende geplante Aufräum-Aktion der Ammerländer Gruppe „W.I.M. – Weniger ist machbar" einen besonderen Wert für Natur und Umwelt hat, ist bekannt. Nicht ganz so offensichtlich ist, dass das Aufsammeln von Zigarettenstummeln und Plastikresten für manche Menschen bedeutend wie herausfordernd zugleich sein mag. Das gilt auch für die Klient*innen der AWO Trialog Wohnanlage am Mühlenhof. Sie beteiligen sich erstmalig an der Aktion – und verspüren jetzt schon ein Höchstmaß an Aufregung.
Denn: Wo gesammelt wird, da wird nun mal auch gesabbelt. Sind soziale Interaktionen und Small-Talk zwischen Tür und Angel für die Allgemeinheit kaum problematisch, können sie Einzelne durchaus abschrecken. Allein der Schritt vor die Tür, damit aus der Sicherheit der eigenen vier Wände, mag in bestimmten Lebensphasen für Druck und Überforderung sorgen. „Wir nutzen daher kleinere Aktionen wie diese, um wieder erste Berührungspunkte mit dem Sozialraum zu schaffen, sprich: ihn zu erkunden und tatsächlich zu erleben, dadurch Erfahrungswerte und eigene Ideen zu sammeln", sagt Tatjana Borejko, Referentin für Soziale Teilhabe bei der AWO Trialog Weser-Ems GmbH. Dass Klientinnen und Klienten dabei nicht allein gelassen werden, steht außer Frage.
Wertvolle Hilfe im und für den Alltag
Die Bereitschaft, sich in eine durchaus herausfordernde Situation wie diese zu begeben, kommt von den Betreuten selbst. Bei Begegnung, Kommunikation und Aktivitäten – insbesondere dem Abbau von Hemmungen und Ängsten – gibt es indes wertvolle Hilfe. Derartige sogenannte „Assistenzleistungen" sind in der Eingliederungshilfe unverzichtbar, daher seit einigen Jahren nun auch mit Rechtsanspruch versehen. Dabei handelt es sich um Unterstützungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit denen sie ihren Tagesablauf selbstbestimmt zu bewältigen lernen. Solch eine mehr oder minder Intensivbegleitung ist Alltag in der Wohnanlage am Mühlenhof, aber eben auch ein akuter Anker zur bevorstehenden Aktion.
Klärung der Bedarfe und Risiken
„In diesem konkreten Fall haben wir die Klientinnen und Klienten gezielt auf den Tag vorbereitet – also Möglichkeiten, Bedarfe und Risiken besprochen und schließlich Aufgaben untereinander verteilt", so Einrichtungsleitung Denise Neßmann zufrieden ob der gemeinsamen Vorplanung. „Eine Klientin hat Kontakt zum Nabu aufgenommen und weitere Infos eingeholt, andere bereits Einzelverabredungen mit den Mitarbeitenden, die die Gruppe an diesem Tag begleiten, getroffen", so Neßmann, „kurzum: die Teilnahme ist erwünscht und alle freuen sich auf diese Erfahrung."
Eigene Grenzen durchbrechen, das Unbekannte bewältigen
Übrigens nicht die erste ihrer Art: In der Einrichtung wurden schon häufiger Projekte mit Schwerpunkt Klima-/Umweltbewusstsein durchgeführt. Dennoch ist der Respekt vor der anstehenden Herausforderung diesmal immens, da die meisten Klientinnen und Klienten nun ganz bewusst ihre eigenen bis dato eng gefassten Grenzen durchbrechen. „Letztendlich geht es vor allem darum, Umweltbarrieren für den Menschen mit Behinderungen abzubauen, zu minimieren oder sie überhaupt erst sichtbar und damit greifbarer zu machen", so Borejko. Bis das verunsichernde Unbekannte selbstständig bewältigt werden kann, kommt den qualifizierten Assistenzleistungen höchste Bedeutung zu – „sie sind gewissermaßen ein Trainings- oder Lehrplan, der immer und immer wieder durchgeführt wird, bis es klappt", sagt sie und schiebt sogleich noch einige Beispiele hinterher: „Kochübungen, Wohnraumreinigung, ein Umgang mit Konflikten, die Befähigung zur eigenständigen Medikamenteneinnahme, der Besuch eines Theaters oder der Einkauf im Supermarkt – also allesamt Handlungen, die bei den meisten von uns wohl keine Angstzustände auslösen würden. Dennoch sind die Sorgen real und können tatsächlich jede Person irgendwann einmal treffen. Dann aber sind wir da und können hoffentlich bei der Bewältigung des Alltags weiterhelfen." Oder eben auch beim Sammeln und Sabbeln im Sozialraum.
Fachtag „Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe"
Die AWO Trialog Weser-Ems GmbH veranstaltet am 13. Juni 2024 in Rastede einen öffentlichen Fachtag zum Thema „Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe". Fragen zur Teilnahme und zu den Inhalten beantwortet Tatjana Borejko, Referentin für Soziale Teilhabe und Projektleiterin, via E-Mail: teilhabegestalten@awo-ol.de
Zum Hintergrund
- Unter dem Motto „Sammeln statt Sabbeln" ruft die Gruppe „W.I.M. – Weniger ist machbar" für den 6. April zum Müllsammeln rund um den Schlosspark auf. Treffpunkt ist um 14 Uhr der Parkplatz an der Mühlenstraße. Auch alle zum Park führenden Straßen sollen einbezogen werden. Gesammelt wird alles, was nicht in die Natur gehört.
- Die Wohnanlage am Mühlenhof in Rastede ist eine sozialpsychiatrische Einrichtung für Menschen mit einer wesentlichen und nachgewiesenen seelischen Behinderung. Unsere Klient*innen leben mit den Folgen einer psychischen Erkrankung nach ICD-10, die bereits länger als sechs Monate anhält. Dazu gehören etwa Schizophrenie und wahnhafte Störungen (Psychosen), Affektiven Störungen (Depressionen und Manie) sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (u.a. Ängste und Zwänge).