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„Einsamkeit im Alter ist kein Tabu-Thema mehr"


11. Juli 2025

AWO Weser-Ems: Interview mit Betreuungs-Referentin Anja Härtel

NIEDERSACHSEN. Wer älter als 75 Jahre ist, fühlt tiefe Einsamkeit in sich. Und in Pflegeheimen und Co – verlassen von vielleicht eher verstorbenen Freund*innen und Bekannten – bleibt ja ohnehin nicht viel zum Glücklichsein! So zumindest die allgemeine Annahme. Alt gleich allein. Dass sich mittlerweile jedoch jeder vierte deutsche Erwachsene alleine fühlt, ist statistisch* erhoben und wohl auch ganz individuell erlebbar. „Einsamkeit im Alter ist damit kein Tabu-Thema mehr", sagt Anja Härtel.

Härtel ist bei der AWO Weser-Ems Referentin für Betreuung und Ergotherapie, dazu Praxisexpertin des vom Bund geförderten Forschungsprojektes „ZEIT – Zusammen Erleben, Immersiv Teilhaben". Die 60-Jährige ist im steten Austausch mit Kolleg*innen und Senior*innen, weiß damit also deren Ängste und Bedürfnisse gut einzuschätzen. Dass Einsamkeit auch selbsterwählt sein kann, das Alleinsein nicht nur gewünscht, sondern zuweilen auch genossen wird, erklärt sie hier im Interview.

Sie sind seit vielen Jahren im tagtäglichen Austausch mit Senior*innen – haben Sie in dieser Zeit Veränderungen bei deren Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen festgestellt?

Härtel: Einsamkeit im Alter ist zum Glück kein Tabu-Thema mehr. Jeder Mensch geht damit unterschiedlich um, unabhängig vom Alter. Es gibt ältere Bewohner*innen, die deutlich kommunizieren, dass sie sich alleine fühlen: Alleingelassen von der Familie, den früheren Freund*innen und Nachbarn – oder eben auch alleine, weil keiner mehr da ist und alle Bekannten bereits gestorben sind. Allerdings gibt es eben auch Menschen, die sich aktiv zurückziehen, an Aktivitäten nicht teilnehmen wollen, dies selbstbestimmt für sich entscheiden. Und dann gibt es noch die Stillen, die sich wenig äußern, die aber eben auch allein in der Gruppe sind, da sie sich nicht dazu gehörig fühlen. Damit also einsam in der Gemeinschaft.

Wie wirkt sich dieses Einsamkeits-Empfinden auf den Alltag aus?

Härtel: Jeder einzelne Bewohner und jede einzelne Bewohnerin wird individuell betrachtet, es fällt niemand raus. Gerade im Bereich Betreuung werden Wünsche und Bedürfnisse der Einzelnen erfasst, Biographien werden berücksichtigt. Dann wird in Absprache mit den Bewohner*innen ein individueller Betreuungsplan immer angepasst an Bedürfnisse und Tagesform aufgestellt, die Angebote also beständig überdacht. Es kann aber auch bedeuten, dass jemand alleine gelassen werden möchte und nur einige Gespräche zulässt. Manchmal fällt es natürlich schwer, diesen Rückzug zuzulassen, aber auch das ist vollkommen akzeptiert. Der normale Alltag der Bewohner*innen umfasst sowohl Einzel- als auch Gruppenangebote mit verschiedensten Schwerpunkten. Bewohner*innen werden immer wieder zu den Aktivitäten individuell eingeladen. Allein dabei entsteht schon ein kleines Gespräch, auch wenn der/die Bewohner*in schlussendlich ablehnt.

Wie war es denn während der mit zahlreichen Einschränkungen verbundenen Pandemie vor noch wenigen Jahren?

Härtel: In der Corona-Zeit hatte sich das Thema natürlich verschärft. Dabei kann ich nur sagen, dass die Mitarbeiter*innen vor Ort alles versucht haben, um die menschliche Nähe irgendwie zu ermöglichen. Inzwischen gibt es die Einschränkungen bekanntlich nicht mehr, erholt davon haben sich sowohl Bewohner*innen als auch die Mitarbeiter*innen noch nicht gänzlich. Das In-Sich-Zurückziehen war ein großes Problem. Diese Rückkehr zur Normalität ist allen schwergefallen.

Wie können wir aus Ihrer Sicht gesellschaftlich und auch ganz individuell entgegenwirken?

Härtel: Im Rahmen unseres Zeit-Projektes [ https://www.zeit-projekt.org/ ] war und ist Ferne ein großes Thema. Hier versuchten wir – unter anderem über eine VR-Brille, aber auch weitere elektronische Helfer, die beispielsweise Berührungen nachempfinden lassen – weite Strecken zwischen Menschen online zu überbrücken. Angehörige und Bewohner*innen können so dank Soft- und Hardware tatsächlich über eine große Distanz hinweg gemeinsame Zeit erleben, neue Erlebnisse teilen, gemeinsam spielen, in virtuelle Welten gehen und sich an Gemeinsames erinnern. Unter dem Strich gab es so eine gefühlt wirkliche Nähe. Leider handelt es sich hierbei um ein begrenzt gefördertes Projekt, von dem es eigentlich sehr viel mehr geben müsste.

Gibt es andere Möglichkeiten, schnell und unkompliziert den Menschen Gutes zu tun?

Härtel: Einfacher ist es natürlich, sich ehrenamtlich vor Ort einzubringen. In unseren Einrichtungen werden Freiwillige auf diesem Weg begleitet und nicht bloß ins kalte Wasser geschmissen. Man wird fachlich bei der Planung von Aktionen oder für den 1:1-Austausch unterstützt, es wird gemeinsam geschaut, welche Fähigkeiten man wie zum Wohle aller Beteiligten einsetzen könnte, hat dazu Ansprechpersonen vor Ort – und es gibt inzwischen auch Fortbildungen für die Ehrenamtlichen. Ängste im Umgang können so ganz schnell abgebaut werden. Im Grunde haben alle was davon und wirken so der Einsamkeit entgegen.

In einer AWO-Einrichtung wurde jüngst eine Roboter-Robbe gegen Einsamkeit eingeführt...

Härtel: Ja, richtig. Ist nicht immer sofort menschliche Nähe da oder möchte man vielleicht auch gar nicht mit anderen Personen sprechen, gibt es inzwischen auch computergesteuerte Kuscheltiere, die in Kommunikation mit den Bewohner*innen treten. Hier gibt es eine täuschend echt agierende Roboter-Robbe, dort eine Roboter-Katze, in manchen Einrichtungen auch richtige Besuchshunde, Hauskatzen oder eine Vogelvoliere. Das alles wird sehr gut angenommen. Auch selbsterklärende überdimensionale digitale Tablets und Interaktions-Instrumente wie das Crdl unterstützen die gemeinschaftlichen Tätigkeiten – diese haben wir bereits in einigen Einrichtungen, aber eben noch nicht flächendeckend. Dafür werden weitere Fördergelder benötigt. Klar ist uns aber auch: Menschliche Nähe ist durch nichts zu ersetzen, dank technischer Hilfsmittel aber immerhin ein wenig zu stützen. Letztendlich ist es immer der Mensch selber, der die Beziehung eingeht und somit der Einsamkeit entgegenwirkt.

* Zahlen und Daten:

* Links: Filme zur Einsamkeit in Pflegeeinrichtungen


WEITERE INFORMATIONEN ZUM THEMA

Dem Thema Einsamkeit ...
... hat sich die AWO Weser-Ems jüngst mit Online-Themenwochen, aber auch einer umfassenden „Pageflow" gewidmet. Die Multimedia-Seite gibt einen guten und zugleich sehr persönlichen Eindruck der internen und externen Angebote für vom Alleinsein betroffene Personengruppen zwischen Nordsee und Osnabrücker Land: https://awoweserems.pageflow.io/einsamkeit 

Der AWO Bezirksverband Weser-Ems ...
... bietet mit seinen über 4000 Mitarbeitenden zwischen Nordsee und Osnabrücker Land soziale Dienstleistungen in rund 80 Einrichtungen rund um Pflege, Kinderbetreuung, psychosoziale Teilhabe und Beratung an. Als politischer Verband vertritt dieser die Interessen der Menschen in der Region und setzt sich für eine demokratische und gerechte Gesellschaft ein. Beteiligungs- & Spendenmöglichkeit: https://www.awo-ol.de/Aktuelles-Presse/Spenden/ 

Die Arbeiterwohlfahrt ...
...gehört zu den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Bundesweit wirken in ihr über 300.000 Mitglieder, mehr als 72.000 ehrenamtlich Engagierte und 242.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen, um in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen. Mehr zu Jobs und Menschen: https://www.awo-ol.de/Aktuelles-Presse/Multimedia/ 

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