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„Bedürfnisse zu äußern und Konflikte zu klären, ist ohne Sprache schwer"


03. Juni 2025

Interview mit Christine Zellmann, Leiterin des Sprachheilzentrums / Auch Kinder leiden unter Einsamkeit / Themen-Website mit Tipps und Infos

BAD SALZDETFURTH. Einsame Menschen sprechen anders, Menschen mit Sprachstörungen fühlen sich häufig einsamer – was ein bisschen wie die Frage nach Huhn oder Ei klingt, ist in den AWO Sprachheileinrichtungen täglich Thema, so auch im Sprachheilzentrum Bad Salzdetfurth.

Dort, wo jungen Menschen das Selbstwertgefühl verloren ging, dort, wo Freundschaften aufgrund fehlender Kommunikationsmittel vielleicht gar nicht erst möglich sind, kommen Leiterin Christine Zellmann und ihrem multiprofessionellen Team, aber auch der Einrichtung selbst eine besondere Bedeutung zu. Denn hier im Sprachheilzentrum erleben die Kinder erstmalig, Teil einer Gruppe zu sein – auf Augenhöhe und mit Verständnis füreinander. Im Interview erklärt Christine Zellmann, wie dies alles zusammenhängt und welche Chancen sich hier Eltern, aber auch Mitarbeitenden bieten.

Einsamkeit oder Alleinsein – was erleben Sie in Ihren Einrichtungen bei den Kindern und Jugendlichen?

Zellmann: Außerhalb der Familie bestehen häufig wenig bis gar keine Kontakte. Insbesondere haben die Kinder häufig keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Deshalb erleben die Kinder im Sprachheilzentrum erstmalig, Teil einer Gruppe zu sein. Häufig nennen die Kinder „Freunde finden" als eigenes Ziel. Alleinsein bezieht sich hier eher auf das Fernbleiben von Zuhause oder das Vermissen von Freunden und äußert sich beispielsweise in Form von Heimweh. Einsamkeit beschreibt hingegen eine tiefe Traurigkeit oder ein Gefühl von Ausgrenzung. Einsam empfinden sich manche Kinder und Jugendliche durch ihre Sprachproblematik, weil die gesellschaftliche Teilhabe teils erheblich einschränkt ist und die Betroffenen sich selbst zurückziehen und sich isolieren. Das Gefühl, „ich gehöre nicht dazu" und „ich bin anders" kann jemanden selbst innerhalb einer riesigen Menschenmenge oder im gewohnten Umfeld einsam fühlen lassen.

Bedingen denn Sprache und Einsamkeit einander oder hat eines besonderen Einfluss aufs andere?

Zellmann: Stellen Sie sich vor, sie sind im Ausland ohne die dortige Sprache zu können. Solange man am Strand liegt, kommt man gut zurecht. Sobald man einen Arzt aufsuchen muss oder mit dem Auto eine Panne hat, merkt man sehr deutlich die Einschränkungen, die durch fehlende Sprache auftreten. Kontaktaufnahme läuft häufig über Kommunikation. Fehlt Sprache, ist die Kontaktaufnahme erschwert. Bedürfnisse zu äußern ist schwer ohne Sprache, ebenso wie Konflikte zu klären. Im gemeinsamen Spiel hat mit zunehmendem Alter Sprache eine größere Bedeutung, so auch beim Rollenspiel. Kinder, die nicht verstanden werden oder auch selbst nicht verstehen, spielen deshalb häufig nicht mit. Machen Kinder vielfach entsprechende Erfahrungen, führt das zur Frustration – mit Einfluss auf das Verhalten im Sinne von Rückzug oder Aggression.

Sie behandeln in Bad Salzdetfurth ganz unterschiedliche Sprach- und Stimmstörungen. Gibt es darunter Varianten, die im sozialen Umgang deutlich belastender sind als andere?

Zellmann: Mit einer massiven Sprachstörung geht häufig ein erschwerter Schriftspracherwerb einher mit Folgen für den Bereich schulische Bildung und berufliche Möglichkeiten. Aussprachestörungen und
Dysgrammatismus führen zu Unverständlichkeit auch im bekannten Kontext. Sprachverständnisstörungen fallen häufig erst spät auf, da Kinder Ersatzstrategien entwickeln. Gerade im schulischen Kontext zeigt sich dann häufig, dass diese Strategien nicht ausreichend sind. Andere nicht verstehen können – das führt zu großen Unsicherheiten und einem Gefühl des Kontrollverlusts und fehlender Selbstwirksamkeit. Nicht selten entwickeln sich daraus soziale Rückzugstendenzen, Vermeidungsverhalten oder auch Wut, Aggression oder Ängste. Stottern/Redeunflüssigkeiten führen nicht nur beim Sprechenden, sondern auch beim Zuhörenden zu einer erhöhten Anspannung. Die Sprechstörung geht häufig einher mit Sprechängsten, verbalem Rückzug, niedrigem Selbstbewusstsein und Schamgefühl. Mutismus, also das Nicht-Sprechen in bestimmten Kontexten oder mit bestimmten Personen, hat meist große Auswirkungen auf die sozial-emotionale und kommunikative Entwicklung des Kindes und kann darüber hinaus sehr belastend für das ganze Familiensystem sein. Also: Insgesamt haben massive Sprachstörungen einen erheblichen Einfluss.

Wie helfen Sie jungen Menschen auf den Weg zurück in die Gesellschaft, welche Leitplanken geben Sie ihnen?

Zellmann: Die Kinder und Jugendlichen haben in der Einrichtung einen geschützten Rahmen, in dem sie sich ausprobieren und sich in ihrem eigenen Lerntempo entwickeln können. Dabei hilft es den Kindern, dass sie ein „normales Kind" einer Gruppe sind und nicht ein Kind, das mit seinen besonderen Herausforderungen aus der Gruppe heraussticht. Die individuellen Unterstützungsbedarfe, die jedes Kind mitbringt, können auch in der zum Standort gehörenden Burgbergschule besonders gut gefördert werden. In der Schule werden die Unterstützungsbedarfe Sprache und Lernen berücksichtigt. Die Schule zeichnet sich durch sehr kleine Lerngruppen aus, die eine individuelle Förderung ermöglichen, die Zusammenarbeit mit den Eltern komplettiert das Angebot.

Wie sieht das Team aus, das auf diesem Weg unterstützt?

Zellmann: Neben den Logopäd*innen/ Sprachtherapeut*innen besteht das Behandlungsteam aus Heilpädagog*innen und Bewegungstherapeut*innen, Psycholog*innen und den Pädagog*innen. Alle arbeiten mit ihren fachspezifischen Methoden und Materialien an den gemeinsam festgelegten Zielen und unterstützen sich daher gegenseitig. Das Besondere an diesem Standort ist, dass die Lehrkräfte der Burgbergschule mit zum Behandlungsteam gehören und somit auch hier eine enge Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung besteht.

Was erwarten Erziehungsberechtigte von Ihnen und den eigenen Kindern – und wo müssen Sie Wünsche und Erwartungen wieder einfangen?

Zellmann: Natürlich sollen sich insbesondere die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Kinder positiv entwickeln, damit auch Außenstehende ihre Kinder verstehen und sie so beispielsweise in der Lage sind, Freunde zu finden. Besonders wichtig ist den Eltern zudem die schulische Entwicklung. Häufig haben die Kinder schlechte Erfahrungen mit dem Schulbesuch gemacht, häufig Mobbingerfahrungen bis hin zur Schulverweigerung. Zumindest gelingt es hier, positive Schulerfahrungen zu sammeln und Fähigkeiten zu stärken, allerdings führt diese zeitlich begrenzte Unterstützung später nicht immer zu einem sorgenfreien Alltag und den gewünschten Abschlüssen. Häufig werden auch „mehr Selbstbewusstsein" und „mehr Freunde bzw. mehr soziale Kontakte" genannt – durch die Verbesserung insbesondere der sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten erfüllen sich diese Elternwünsche in den meisten Fällen ebenfalls.

Ein Ehemaligentreffen steht an, viele von ihnen kommen gern zu Ihnen, halten aber auch über Jahre hinweg den Kontakt. Weshalb eigentlich?

Zellmann: Häufig steht die Zeit im Sprachheilzentrum für die Kinder- und Jugendlichen für eine einschneidende Veränderung in ihrem Lebensweg. Zunächst die zeitweise Trennung von der Familie zumindest in der Woche, dann die Gruppe als (Ersatz-) familiäres System, mit viel Raum und Unterstützung der persönlichen Entwicklung und schließlich der Neustart am Herkunftsort mit neuen Fähigkeiten und häufig gestärktem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

Wo sortiert sich da die inklusive Wohngruppe ein und weshalb braucht es diese?

Zellmann: Die Inklusive Wohngruppe bietet für Kinder und Jugendliche einen sicheren Ort für soziales Lernen, Geborgenheit und Sicherheit, wenn die familiären Strukturen durch komplexe Problemlagen belastet sind. Diese Kinder können ebenfalls an der Burgbergschule unterrichtet werden, wenn die genannten Förderschwerpunkte vorliegen. Die inklusive Beschulung anderer Förderbedarfe ist ebenfalls möglich. Zusätzlich können sprachtherapeutische Bedarfe versorgt werden.

Was macht Ihre Arbeit so wertvoll – für die Angehörigen und Kinder, aber auch für die Mitarbeitenden vor Ort selbst?

Zellmann: Entspannung der familiären Situation, da die Kinder sich sprachlich, emotional und schulisch gut entwickeln. Die Kinder erleben durch mehr Sprache eine höhere Selbstwirksamkeit und entwickeln ein besseres Selbstwertgefühl. Für Mitarbeiter*innen ist es bereichernd, diese Entwicklung zu unterstützen und zu begleiten, meist über Jahre hinweg. Dadurch ergibt sich ein ganz anderes Verständnis von Fürsorge und einem Miteinander, es baut sich über eine lange Zeit ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis auf. Viele Erfahrungen und Entwicklungsschritte der Kinder und Jugendlichen werden gemeinsam erlebt und gemeistert – das schweißt zusammen, anders als es ambulant der Fall wäre. Alle Beteiligten können am Ende stolz auf das Erreichte sein!

Übrigens: Dem Thema Einsamkeit, gleich welchen Alters, hat sich die AWO Weser-Ems jüngst mit Online-Themenwochen, aber auch einer umfassenden Multimedia-Website gewidmet. Diese Pageflow gibt einen guten und zugleich sehr persönlichen Eindruck der internen und externen Angebote für vom Alleinsein betroffene Personengruppen zwischen Nordsee und Osnabrücker Land: https://awoweserems.pageflow.io/einsamkeit 

WEITERE INFORMATIONEN ZUM THEMA

Das Sprachheilzentrum Bad Salzdetfurth ...
... birgt unter anderem einen Sprachheilkindergarten. In der angeschlossenen Burgbergschule – Förderschule mit den Schwerpunkten Sprache und Lernen - sind die Klassen sehr klein, meist acht bis zwölf Schülerinnen und Schüler. Durch Pädagog*innen und Hilfskräfte erhalten die Lehrkräfte hier Unterstützung und stimmen Förderziele für einen gelingenden Entwicklungsprozess regelmäßig ab. Teilweise kann Einzelunterstützung angeboten werden. Zudem werden in Wohngruppen jeweils acht Kinder und Jugendliche von speziell fortgebildeten Erzieherinnen und Erziehern betreut. Mehr Infos gibt's unter https://www.sprachheilzentrum-bad-salzdetfurth.de/ 

Der AWO Bezirksverband Weser-Ems ...
... bietet mit seinen über 4000 Mitarbeitenden zwischen Nordsee und Osnabrücker Land soziale Dienstleistungen in rund 80 Einrichtungen rund um Pflege, Kinderbetreuung, psychosoziale Teilhabe und Beratung an. Als politischer Verband vertritt dieser die Interessen der Menschen in der Region und setzt sich für eine demokratische und gerechte Gesellschaft ein. Die Stellenangebote: https://www.awo-ol.de/Karriere/Stellenangebote/ 

Die Arbeiterwohlfahrt ...
...gehört zu den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Bundesweit wirken in ihr über 300.000 Mitglieder, mehr als 72.000 ehrenamtlich Engagierte und 242.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen, um in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen. Mehr zu Jobs und Menschen: https://www.awo-ol.de/Aktuelles-Presse/Multimedia/ 

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