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Beratungs-Kahlschlag? „Verlust wäre gesellschaftlich nicht aufzufangen"


11. September 2023

Arbeit der Migrationsdienste stützt kommunale Verwaltungen / AWO Weser-Ems fordert Bundespolitik zu Nachbesserungen im Etat auf

„Ein sibirischer Bär lernt in einem Jahr das Fahrradfahren – sag' mir nicht, dass etwas nicht geht!" Zack, das sitzt. Wenige Worte nur, die beim Gegenüber aber für Eindruck und auch ein Umdenken, vielleicht ja auch eine Ausbildung im Traumjob sorgen werden. Wie der 19-Jährige aus Syrien bei seiner Zukunftsplanung ohne Lilia Hübscher zurechtkäme? Was das Rathaus in Meppen ohne die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer machen würde? Und wie die Stadtgesellschaft ohne so integrierte Migrantinnen und Migranten aussähe? „Das sollte vielleicht die Bundespolitik allen Beteiligten mal erläutern", so Katharina Garves vom AWO Bezirksverband Weser-Ems, „denn die sieht massive Kürzungen in der Migrationsberatung vor – so massiv, dass gut ein Drittel der Stellen bundesweit geschlossen werden müsste".

Lilia Hübscher kam 1993 als Spätaussiedlerin nach Meppen, ein Jahr später übernahm sie die Leitung der AWO Jugendmigrationsberatung ebenda: „Ich habe den gleichen Weg wie meine Klientinnen und Klienten durchlaufen, daher weiß ich, was sie benötigen und wie wir ihnen helfen können", sagt sie. Was sie benötigen – das ist aus Sicht muttersprachlicher Außenstehender nicht viel, für die jungen Frauen und Männer aus fernen Ländern aber tatsächlich die Welt. „Die Allermeisten wollen gern sofort arbeiten und sich betätigen, müssen aber lange auf einen Sprachkurs warten, das ist in Deutschland in den meisten Fällen Voraussetzung", so Hübscher, „ich weiß doch, wie schwer der Anfang ist, aber man darf sich selbst nicht aufgeben." Mehr als 600 Menschen zählt sie aktuell in ihrer Beratungskartei. Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, mittlerweile vor allem aus den besetzten Teilen der Ukraine. „Gäbe es uns nicht – sie würden alle bei der Kommune landen, und die könnte das alles im Leben nicht bewältigen."

Rundum-Versorgung

Das alles – damit meint sie das Ausfüllen von Anträgen. Der Besuch von ärztlichen Praxen. Die Ausgestaltung von Bewerbungen. Die Vorstellung beim Jugendamt. Leitplanken, Lebensberatung, Motivation, vor allem aber soziale Teilhabe und eine Perspektive. „Von Beruf und Bildung hängt die Existenz ab, junge Menschen wollen und benötigen einen Weg, um beruflich glücklich zu werden." Freie Stellen gibt es hier genug – die Voraussetzungen in Deutschland sind aber hoch und die Integration ist genau aus diesem Grund schwerfällig.

700 Meter weiter südlich in der Meppener Kirchstraße sitzt Raphael Migura. Hier, im gut besuchten Café International, ist die AWO Migrationsberatungsstelle integriert. Je nach Bedarf und Bedürfnis der ein- und auskehrenden Gäste wird's aber auch gern mal umgekehrt gesehen. „Die Dankbarkeit für unsere Unterstützung ist enorm, die Forderungen nach Hilfe sind es aber auch", so der 40-Jährige. „All die Menschen, die ihr Leben hier im neuen Umfeld und unter all den neuen Rahmenbedingungen nicht selbst regeln können oder wollen, stehen hier Schlange."

Fatale Folgen

Montags und donnerstags gibt's die offene Beratung. Niederschwellig, vertraulich, spontan, bedingungs- und kostenlos. An allen anderen Tagen berät Migura unter gleichen Vorgaben nach Termin – und der Kalender ist voll. Dass auch die meisten anderen Beratungsstellen überlaufen sind, ist zwar ein deutlicher Beleg der so wichtigen Beratungshilfe, ein schlechtes Zeichen aber für die staatliche Integrationsarbeit.

„Mal ehrlich: Als ich hier angefangen habe, musste ich bei den mir vorgelegten Formularen oftmals auch richtig schlucken – und das als Muttersprachler. Nicht auszudenken, was auf den Ämtern in Deutschland los wäre, wenn dort alle die fehlerhaft oder gar nicht ausgefüllten Anträge abgegeben würden, die Menschen keine Anlaufpunkte wie die unsrigen hätten. Das wäre für alle Seiten fatal – und die daraus wohl resultierende Obdachlosigkeit würde Folgekosten und soziale Probleme massiv in die Höhe treiben." Sicherlich mit ein Grund, weshalb die hiesige Kommune so große Stücke auf die Migrationsberatungsstelle und den Jugendmigrationsdienst hält, sich hier um gute Zusammenarbeit bemüht und auch der Bürgermeister ab und an reinschaut.

Integration gegen Abkopplung

„Unser aller Ziel muss sein, die Chancen auf eine erfolgreiche Integration systematisch zu erhöhen – dann haben wir alle etwas davon", so Lilia Hübscher. Dass die Politik hier tatsächlich den Sparstift ansetzt, wie so oft säbelrasselnd angedroht, mag sie einfach nicht glauben. „Nein, weil ich gesunden Menschenverstand habe und weiß, dass es sonst zu gravierenden Folgen führen würde. Diese Verantwortung will niemand ernsthaft auf sich nehmen."

Das, was Menschen auf sich nehmen wollen, weil sie den Sinn dahinter erkennen, ist die private „Sozialarbeit", hier unter AWO Organisation. „Wir haben ganz viele Ehrenamtliche, die ganz ohne Lohn Sprachkurse geben, darunter auch ehemalige Migrantinnen und Migranten. Gemeinsam schaffen wir das – das schließt Einheimische ein. Denn wie sollen Menschen integriert werden, wenn sie abgekoppelt oder gar nicht erst hinein geholt werden? Ganz ehrlich: Wenn die Politik mal die Menschen fragen würde, die hier arbeiten und den Laden zusammenhalten, dann hätte sie im Land auch weniger Probleme."

Zeichen gelungener Integration

Hübscher spricht und versteht ukrainisch, russisch, polnisch, bulgarisch und deutsch, ihr Kollege Migura englisch, dazu noch arabisch. Wo das alles nicht weiterhilft, kommen Hände, Füße, auch mal Blicke ins Spiel. Und Lautstärke. Hübschers resolute Art kommt bei den Klientinnen und Klienten an, aber auch ihre eigene Vergangenheit, all ihr Wissen. „Ich dachte damals selbst: Hilfe, das kann ich nicht. Aber die AWO hat mich einfach mitgenommen. Und genau das versuche ich auch meinen Leuten zu vermitteln – nicht aufgeben, weitermachen, mitmachen, vertrauen." So auch in die Politik. Wie in Meppen.

„Die Stadt ist zufrieden mit uns, zahlt unsere Räumlichkeiten für das Café International – und wir helfen mit, dass die Stadt für gelungene Integration stehen kann." Beispielsweise als Anlauf- und auch Auffangstelle, aber auch durch Vermittlung der Klientinnen und Klienten in Lohn und Brot. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn sich Ratsuchende zurückmelden und erzählen, dass sie dank unserer Hilfe eine Ausbildung begonnen haben. Trotzdem ist wichtig, dass wir in der Hauptsache Hilfe zur Selbsthilfe geben, bürokratisch und weniger therapeutisch wirken, auch wenn viele der zu uns Geflüchteten hier in echten Nöten sind", so Migura.

Aktionen der Beratungsstellen

Katharina Garves, Verbandsreferentin bei der AWO Weser-Ems, hält die kommenden Wochen zur wiederholten Aufklärung der Politik für entscheidend: „Sollte es in diesem Jahr bei den Migrationsberatungsstellen tatsächlich den angedrohten Einschnitt der Haushaltsmittel um 30 Prozent geben, würden wir jede 3. Einrichtung verlieren. Dieser Verlust wäre weder von der Kommune noch gesamtgesellschaftlich aufzufangen."

Entsprechend haben die über das Weser-Ems-Gebiet verteilten AWO Beratungsstellen verschiedene Aktionen geplant – unter anderem sind Vertreterinnen und Vertreter der Bundespolitik zu Infogesprächen eingeladen. „Ohne Kenntnis des Ist-Zustands, der drängenden Probleme vor Ort und der Verzweiflung aller Beteiligten, sind Kürzungen natürlich schnell von der Hand gemacht. Wir versprechen uns von diesem Termin etwas mehr Verständnis für die Realsituation, die Nachvollziehbarkeit des Angebots mit all seinen positiven Folgen und so ein entsprechendes Einlenken der Politik."

Zum Hintergrund

Die Bundesregierung plant drastische Kürzungen im sozialen Sektor, insbesondere in der Pflege, dem Freiwilligendienst und auch in der Migrationsberatung. Der Haushaltsetatentwurf für 2024 ist bereits verabschiedet, Anpassungen sind noch möglich. „Soziale Dienstleistungen wie diese sind elementar für das Zusammenleben der Gesellschaft. Ohne sie funktioniert vor allem auch der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht", sagt Thore Wintermann, Vorstand Verband und Politik der AWO Weser-Ems und Geschäftsführer der AWO Niedersachsen LAG, „wir beobachten nun sehr genau, wie Berlin bis zur endgültigen Entscheidung über den Haushalt agiert – und selbstverständlich hoffen wir dann hier auch auf Nachbesserungen und mehr Fingerspitzengefühl."

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