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Begegnung auf Distanz mit innovativen Technologien


07. September 2023

AWO Weser-Ems an Forschungsprojekt „ZEIT" beteiligt / Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis / Erste Prototypen zum sensorischen Austausch entwickelt

In die Arme nehmen, über den Kopf streicheln, die Wärme spüren: All das, was eine persönliche Begegnung mit geliebten Menschen so wertvoll macht, fehlt in Gänze auf Distanz. Das Forschungsprojekt „ZEIT – Zusammen Erleben, Immersiv Teilhaben" setzt genau hier an und widmet sich möglicher und nötiger Sensorik wie Emotion im virtuellen Raum. Wertvolle Informationen trägt hier die AWO Weser-Ems mit ihren Klientinnen und Klienten bei, der bestmöglichen Expertise in eigener Sache.

„Was es braucht, um in einer virtuellen Welt soziale Interaktivitäten akzeptieren und auch erleben zu können, wollen wir mithilfe freiwillig teilnehmender Bewohnerinnen und Bewohner in unseren Einrichtungen herausfinden", sagt May-Britt Rohden, Bereichsleitung im Betreuten Wohnen und der Pflegeberatung bei der AWO Wohnen & Pflegen Weser-Ems. Rohden ist bei diesem hochspannenden und gesellschaftlich bedeutenden Projekt mittendrin, Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, oder spitz formuliert: Bindeglied zwischen Forschung und Mensch. Weshalb eigentlich? „Ich wünsche mir weniger Einsamkeit und Isolation im Alter. Durch unser Projekt können wir Menschen, die fern voneinander leben, zusammenbringen und Erinnerungen aufleben lassen." Und das scheint dringender nötig denn je.
Denn die Praxis weist aufgrund des demographischen Wandels und der immer schnelllebigeren Zeit die Vereinsamung einer wachsenden Zahl an insbesondere älteren Menschen aus. Auch wenn Soziale Medien eine Vielzahl von Möglichkeiten zur audiovisuellen Kontaktaufnahme geschaffen haben, fehlt es darin dennoch an taktilen und weiteren Reizen.

Auf der anderen Seite, in Reihen der Forschung, stehen eben diese physischen Interaktionen und emotionalen Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation im Fokus. Wie gelingen in einem virtuellen Raum möglichst zwischenmenschlich die Übertragung von Freude und Glück, Zufriedenheit, Unwohlsein und Stress, aber auch Berührung, Umarmung, der Handschlag zur Begrüßung oder das Schulterklopfen zum Lob und zur Bestätigung? All das wird bereits seit einiger Zeit intensiv erforscht und in aller Theorie erarbeitet, um baldmöglichst die Praxis zu perfektionieren.

In Sicherheit und mit gutem Gefühl

Auf die Eindrücke, Meinungen und Wünsche, aber auch Sorgen und Abwehrmechanismen ihrer Klientinnen und Klienten gespannt waren und sind gleich mehrere Beteiligte aus Wissenschaft und Wirtschaft. Da ist beispielsweise das „OFFIS" in Oldenburg, das für die Erforschung und Entwicklung einer möglichst realistischen Umgebung in der virtuellen Welt verantwortlich zeichnet. Hierin, in dieser „Mixed Reality", werden sich Nutzende – also Seniorinnen, Senioren und ihre Angehörigen – später einmal mit VR-Brillen so direkt wie vorurteilsfrei, somit auch sicher und mit gutem Gefühl begegnen und bewegen können. Geplant ist, dass sich in diesen Welten gleichzeitig mehrere entfernt lebende Personen treffen, miteinander interagieren und Erlebnisse teilen können. Die virtuelle Umgebung soll sich bestmöglich den Emotionen und Interaktionen der Gäste anpassen und dadurch die soziale Verbundenheit steigern.

Das beteiligte Unternehmen „visseiro" beschäftigt sich mit der Schaffung eben solcher taktilen Reize und bringt Hardware-Komponenten inklusive geeigneter Sensorik und Auswertungseinheiten in das visionäre Gesamtsystem ein, „Affective Computing" nennt sich dies und bewegt sich zwischen Neurowissenschaft und Künstlicher Intelligenz. Der Plan: Physiologische Parameter identifizieren und aufarbeiten, anhand dieser dann eine Emotionserkennung ableiten und erforschen.
Für die Entwicklung einer programmierbaren textilen Oberfläche ist das Institut für Textiltechnik („ITA") der RWTH Aachen zuständig – diese setzt taktile Impulse aus der VR-Umgebung in realistische Berührungen auf der Haut um. Dafür werden formverändernde Fasern („Shape Memory Polymerfasern") entwickelt und diese intelligenten Materialien auf Textilien „gedruckt". Diese können sich aber auch beispielsweise in einem Sessel wiederfinden und müssen nicht direkt am Körper getragen werden. Bliebe noch das Team „Industrial Design" der Bergischen Universität Wuppertal („BUW"), das den Prozess begleitet und die Nutzerorientierung aller im Verfahren zugrunde gelegten Prinzipien steuert.

Keine Zukunftsmusik, sondern bereits getestet

Das alles klingt sehr nach Zukunftsmusik, ist aber tatsächlich schon relativ weit fortgeschritten: Gespräche mit den eigentlichen Zielgruppen zu Anforderungen und Wünschen sind hinreichend geführt, Prototypen mit bewegungsübermittelnden Textilien und entsprechenden Heizelementen entwickelt, erste Proberunden in einer virtuellen, an die Bedarfe der Zielgruppe angepassten Welt wurden durchlaufen. Wie geht es nun also weiter?
Bis zur Marktreife wird es noch einige Zeit dauern. Aktuell erarbeiten die Projektpartner eine gemeinsame Vision für den finalen „Demonstrator", planen weitere Studien und die nächsten Schritte zur Umsetzung. Klar ist, dass hierzu weitere Bewohnerinnen und Bewohner angesprochen und zur Mithilfe gebeten werden. May-Britt Rohden ist da aber bester Dinge: „Schon die ersten Studienergebnisse belegen die Offenheit gegenüber dem neuen Medium, aber auch eine deutliche Begeisterung der Seniorinnen und Senioren für das, was künftig Alltag werden könnte."

Anja Härtel, Referentin für Betreuung und Ergotherapie bei der AWO Weser-Ems, wird am Ende des Projektes die Implementierung in den stationären Einrichtungen übernehmen, hat aber schon jetzt als Vertretung der Seniorinnen und Senioren eine wichtige Rolle im Verfahren – „mir ist wichtig, immer wieder den realistischen Bezug in das Projekt einfließen zu lassen", sagt sie. Sprich: Virtuelle Luftschlösser müssen es gar nicht sein, in denen sich die Zielgruppe bewegen will. Wichtig sei vielmehr, dass sie „durch den Einsatz der innovativen Technologien dieses Projektes auch über weite Entfernungen den ihnen wichtigen Menschen nahe sein können. Damit gelingt es, Kommunikation zu ermöglichen und selbst kleine Herzenswünsche wie eine gefühlte Umarmung zu erfüllen."
Gefördert wird das Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 1,8 Millionen Euro über eine Laufzeit von drei Jahren.

Glossar

Affective Computing: Eine Künstliche Intelligenz (KI) interpretiert gesprochene Worte und die Art und Weise, wie sie gesprochen werden – sie erkennt also Gefühle und soll daraus „empathisch" weitere Handlungen ableiten. Dafür ist es wichtig, dass die KI ständig trainiert wird und Algorithmen weiterentwickelt. Ein Beispiel ihrer Nutzung sind sogenannte „Chatbots", die im Austausch mit Menschen (beispielsweise Kundendienste oder Kommentierungen auf Social Media) einen Gesprächsverlauf natürlich erscheinen lassen.

Immersiv: Immersion ist der Oberbegriff für das vollständige Eintauchen in virtuellen Welten – also die Akzeptanz und Annahme der künstlich erzeugten Umgebung als Realität.

VR-Brille: Geschlossenes Display in brillenähnlicher Form, das mit der entsprechend verbundenen Technologie (Smartphone, Computer) einen fluiden 360-Grad-Blick ermöglicht und die Nutzenden damit in eine andere, virtuell erzeugte Welt eintauchen lässt. VR steht dabei für „virtuelle Realität".

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